Gedemütigt, gequält und geschlagen: mehrere hunderttausend Schüler der japanischen Grund-, Mittel- und Oberschule haben Mobbing schon mal am eigenen Leib erlebt. Für viele von ihnen werden die Schikanen so unerträglich, dass sie sich das Leben nehmen.
Insgesamt 224,540 Schüler aus der Grund-, Mittel- und Oberschule in Japan waren 2015 Opfer von Mobbing in der Schule.
Das ergaben Ergebnisse einer Studie des japanischen Erziehungsministeriums. Zwar ist das Mobbing von Mitschülern kein spezifisch japanisches Problem, jedoch hat das Drangsalieren von Mitschülern in Japan so bedrohliche Ausmaße genommen, dass selbst die Regierung bemüht ist, dieses schwerwiegende nationale Problem einzudämmen.
„Zwar möchte ich noch nicht sterben, aber so weiterzumachen wäre die Hölle auf Erden.“
Ijime, wie es auf Japanisch heißt (Ableitung vom Verb ijimeru (zu dt. Quälen), wird in Japan seit Mitte der 80er Jahre als tief greifendes, gesellschaftliches Problem wahrgenommen.
Auslöser dafür war eine Welle von Suizidfällen an japanischen Schulen. Besonders Aufsehen erregte dabei der Fall von Hirofumi Shikagawa aus Tokyo. Der 13-Jährige hatte sich 1986 als Folge grausamer Schikane durch seine Mitschüler umgebracht und einen Abschiedsbrief hinterlassen, in dem er angab, dass er zwar noch nicht sterben wolle, aber auch keinen anderen Ausweg sehe, dieser Hölle zu entkommen.
Der Junge wurde monatelang von Mitschülern schikaniert, geschlagen und erniedrigt. Der Fall von Hirofumi Shikagawa schlug in der Öffentlichkeit so hohe Wellen, dass die japanische Regierung Ijime als gesellschaftliches Problem offiziell anerkannte und nach Möglichkeiten suchte, das extreme Mobbing einzudämmen.
Mobbing: Lieber sterben als zurück in die Schule
Als Resultat hat das japanische Ministerium für Erziehung, Kultur, Sport, Wissenschaft und Technologie (MEXT) zahlreiche Studien zum Thema Mobbing und Suizid unter Schülern durchgeführt und ist u.a. zu dem Ergebnis gekommen, dass das Mobbing von Mitschülern strukturell besonders vor und während der Prüfungsphasen am Höchsten ist.
Dazu kommt die traurige Gewissheit, dass die Selbstmordrate unter Jugendlichen immer dann besonders hoch ist, wenn die Sommerferien vorbei sind und die Schule wieder beginnt. Wie kann man sich dieses Phänomen erklären und warum nimmt das Mobbing in japanischen Klassenzimmern so erschreckende Ausmaße an, dass Jugendliche im Selbstmord den letzten Ausweg sehen?

Mögliche Gründe und Ursachen fürs Mobbing
Experten sind sich seit Jahren einig: Viele Schüler können dem stetig anwachsenden Leistungsdruck im japanischen Bildungssystem schlicht und einfach nicht standhalten. In kaum einem anderen Land der Welt sind die Ansprüche an Kinder und Jugendliche so hoch wie in Japan.
Wirtschaftlicher Druck und fehlende Perspektiven für die Jugend führen zu einem verschärften Konkurrenzdenken, das schon im frühen Alter auftreten kann.
Der immense Leistungsdruck, der den Schülern von Eltern, Schulen und Mitschülern auferlegt wird, kann gravierende Folgen haben.
Besonders diejenigen, die diesen Erwartungen nicht entsprechen können, neigen dazu, ihren Frust an Mitschülern auszulassen. Hinzu kommt die Tatsache, dass Außenseiter in der japanischen Gesellschaft ohnehin keinen leichten Stand haben.
Soziologen haben in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder darauf hingewiesen, dass das Mobbing ein Produkt des japanischen Konformitätsdruck sei. In einer Gesellschaft, in der vielerorts Kollektivismus noch immer einen höheren Stellenwert als Individualismus hat, stehen junge Menschen unter enormen Druck, sich anzupassen.
Wer es nicht schafft sich in die Gruppe einzufügen, weicht von der Norm ab und das kann gravierende Folgen haben: Kinder und Jugendliche werden als Resultat von ihren Mitschülern eingeschüchtert, gedemütigt, erpresst und drangsaliert.
Von Justiz, Regierung, Schulen und Lehrern im Stich gelassen
In den letzten Jahren kamen immer wieder tragische Selbstmorde oder Selbstmordversuche junger Mobbing-Opfer in die Schlagzeilen, die die Frage offenbaren, wie man diese tragischen Schicksale hätte verhindern können.
Trotz zahlreicher Sensibilisierungskampagnen seitens der Regierung fühlen sich viele Jugendliche von Lehrern und Mitschülern alleine gelassen und finden keinen anderen Ausweg als den Freitod. Dass das Thema vielerorts lieber unter den Tisch gekehrt wird, offenbart der Fall eines 13-jährigen Schülers aus Otsu in der Präfektur Shiga.
Der Schüler hatte sich im Oktober 2011 aus einem Wohnhaus in den Tod gestürzt, nachdem er monatelang von Mitschülern schikaniert wurde. Die Erniedrigungen haben so extreme Ausmaße genommen, dass der Junge von seinen Peinigern dazu gezwungen wurde, seinen eigenen Suizid zu „üben“. Kurz nach dem tragischen Tod des Schülers hatte die Schule eine Befragung unter ihren Schülern durchgeführt.
Obwohl sich infolgedessen herausstellte, dass der Junge schwerwiegend gemobbt wurde, konnte die lokale Bildungsbehörde keine Verbindung zu seinem Suizid feststellen und auch die örtliche Polizei verweigerte den verzweifelten Eltern, den Fall näher zu untersuchen.
Erst als die Eltern in letzter Instanz eine Schadensersatzklage gegen die Peiniger und die Stadtregierung von Otsu einreichten, wurde der Fall noch mal aufgerollt und eingehend untersucht. Dabei stellte sich heraus, dass die Schule das systematische Mobbing des Jungen heruntergespielt habe und dass selbst Lehrer von der Schikane wussten, es aber versäumten, dem Jungen zu helfen.

Japans aussichtsloser Kampf gegen das Mobbing
Im Jahre 2013 hat die japanische Regierung sogar ein Gesetz erlassen, das Bildungsinstitutionen dazu verpflichtet, Mobbing im frühen Stadium zu erkennen und präventiv dagegen vorzugehen.
Dabei sollen vor allem Beratungsstellen Abhilfe verschaffen und die Opfer von Mobbing in der Schule weitgehend unterstützen. Dass die systematische Schikane von japanischen Schülern allerdings trotz Bemühungen seitens der Regierung und Öffentlichkeit noch immer ein schwerwiegendes Problem ist, zeigen jüngste Daten des japanischen Bildungsministeriums.
Dieses hat anhand einer Studie herausgefunden, dass fast 200 Kinder, die in Folge der Dreifachkatastrophe von Fukushima ihre Heimat verlassen mussten, Mobbing und Diskriminierung erlebt haben. Unseren Nachrichtenbeitrag zum Schicksal der Fukushima-Flüchtlinge findet ihr hier.