Mit „Pale Flower“ schuf der japanische Regisseur Masahiro Shinoda in den 1960ern ein Meisterwerk der japanischen „New Wave“. Ab dem 18. Mai ist der Film im Verleih von Rapid Eye Movies in der Serie „ZEITLOS“ endlich auch in deutschen Kinos zu sehen. Wir haben ihn uns angeschaut.
Ein zynischer Hauptcharakter, eine geheimnisvolle schöne Frau, Mord, Drogen, Glücksspiel. „Pale Flower“ ist voll und ganz ein Werk des Film noir, gedreht in Schwarz-Weiß, angesiedelt in der Tokyoer Unterwelt. Hauptfigur Muraki ist nicht, wie oft im Noir-Genre, ein hartgesottener Detektiv – er ist ein Gangster, ein Yakuza.
„Pale Flower“ führt Zuschauer in die Schattenwelt
Nach drei Jahren kommt Muraki (Ryô Ikebe) zu Beginn von „Pale Flower“ aus dem Gefängnis frei. Er hatte einen Mann ermordet, ein Mitglied einer rivalisierenden Yakuza-Gruppe. Der Weg zurück in die Freiheit führt für ihn, der Zivilisten als „Tiere“ ansieht, direkt zurück in die Unterwelt. Und zur Begegnung mit der mysteriösen Saeko (Mariko Kaga). Schon bald verlieren sich beide in einer zerstörerischen Beziehung.
„Pale Flower“ ist eines von Shinodas frühen Werken, die seinen Status als Meister der New Wave begründeten. In seinen Filmen verarbeitet der Regisseur die Unruhen in Politik und Jugend im Japan der 60er Jahre. Sein Werk ist anspruchsvoll und fordert die Zuschauer heraus. Es ist unbequem, rückt marginalisierte Gruppen in den Mittelpunkt.
Das zeigt sich auch in „Pale Flower“. Muraki ist kein Sympathieträger. Er hat gemordet ohne Grund, er bereut nichts und er ist, das wird bereits in den ersten Sätzen des Films klar, zur Wiederholung seiner Tat bereit.
Nichts ändert sich – nichts bleibt gleich
„Nichts ändert sich“, sagt Muraki auf dem Weg durch die Menschenmassen Tokyos. Die meisten Menschen in der „normalen“ Welt, mit der Muraki so gar nichts anfangen kann, seien wie Tiere. Und Tiere zu töten, warum solle das schlecht sein, fragt er die Zuschauer.

Mögen kann und soll man Muraki nicht, das macht Regisseur Shinoda mit der Eröffnung des Films sofort klar. Doch er ist, auch das wird schnell deutlich, ein sehr viel komplexerer Mann, als es zunächst den Anschein hat. Einer, der mit den Werten und Strukturen der Unterwelt besser klarkommt als mit der Gesellschaft im Tageslicht.
Aus dem Gefängnis geht es für Muraki direkt zurück zu seinem Boss und von dort zum Glücksspiel. Als wären drei Jahre Gefängnis nichts weiter als ein Mittagsschlaf. Weder seine Yakuza-Gefährten, noch seine Geliebte – die einzige Verbindung in die Welt der Zivilisten – hat er über sein Freikommen informiert, so banal ist es.
Doch entgegen Murakis Meinung hat sich eben doch einiges geändert, während er weg war. Der Mord, den er begangen hat, zwang seinen Boss zu einer Allianz mit der Gruppe des Getöteten. Um einen Krieg zu verhindern – und Stärke zu zeigen gegen eine dritte Fraktion, die aus Osaka nach Toyko vordringt. Murakis alte Feinde sind plötzlich Verbündete.
Eine Blume in der Unterwelt
Und dann ist da noch Saeko. Sie ist ein ungewohnter Lichtblick in der düsteren Unterwelt, die namensgebende „Pale Flower“, „blasse Blume“, des Films. Niemand weiß, wo sie herkommt, was sie in die Glücksspielhallen der Yakuza getrieben hat.
Doch ihre Anwesenheit ist willkommen, sie bringt Licht und junge Weiblichkeit in die männerdominierten Räume. Auch Muraki kann sich ihrem geheimnisvollen Charme nicht entziehen. Als sie beim Glücksspiel verliert, gleicht er ihre Verluste aus – der Beginn einer ungewöhnlichen Beziehung.
Saeko ist, das wird schnell klar, keine naive Unschuldige. Sie sucht den Thrill, die Ekstase – sie möchte sich lebendig fühlen, indem sie alles aufs Spiel setzt. Ob beim Glücksspiel, wo sie trotz hoher Verluste immer höhere Einsätze sucht. Oder beim Autofahren, wenn aus einer nächtlichen Spritztour durch Tokyo ein spontanes Autorennen wird.
Die Gründe für Saekos Suche nach Aufregung bleiben im Dunkeln. Beziehungsweise im Hellen, denn sie liegen irgendwo in der Welt des Tageslichts, mit der Muraki so gar nichts anfangen kann. Saeko bleibt mysteriös, ihre Geschichte unergründet – über ihre Beweggründe nachzudenken, dazu fordert Regisseur Shinoda die Zuschauer auf.

Muraki begleitet sie, wird ihr Mentor im Glücksspiel und bietet ihr Zugang zu Orten, die nur den Yakuza offen stehen. Er ist fasziniert von ihrer Lust am Leben, die ihm selbst so fehlt. Das erste Mal, so scheint es, spürt Muraki etwas.
Zerstörerische Leidenschaft
Doch „Pale Flower“ ist eben kein romantischer Liebesfilm. Die Beziehung von Saeko und Muraki ist nicht heilsam, sie ist zerstörerisch. Murakis Welt dreht sich bald nur noch um Saeko. Und die sucht nach noch extremeren Erlebnissen, interessiert sich für Drogen – und erreicht damit eine Grenze, die Muraki nicht zu überschreiten bereit ist.
Drogen, sagt er, zerstören die Schwachen. Und diejenigen, die stark genug sind, Drogen zu überstehen, die seien auch stark genug, sie gar nicht erst zu nehmen. So sieht Muraki die Dinge – und übersieht dabei, wie sehr Saeko für ihn bereits zur Droge geworden ist.
Deutlich wird das in einer filmisch brillianten Traumsequenz. Wie ein Getriebener sucht Muraki dort nach der jungen Schönen, seine sonst so beherrschte Art weicht reiner Panik. Er wirkt wie auf Entzug, und merkt es doch selbst nicht.
Aus der ersten zufälligen Begegnung der beiden Hauptfiguren wird im Verlauf von „Pale Flower“ eine tragische Dynamik, deren schreckliches Ende schnell absehbar ist. Den beiden auf dem Weg in die Selbstzerstörung zuzusehen, bleibt dabei bis zur letzten Minute faszinierend.
Figuren, die nicht anders können
Denn ausweglos scheint ihre Situation mitnichten. Nur einige wenige Schritte und beide könnten ein anderes Leben leben, eines mit Zukunft. Murakis Geliebte etwa, eine Büroangestellte, die ihm völlig verfallen ist, könnte sein Weg in ein Leben im Tageslicht sein.
Doch er rät ihr stattdessen, einen ordentlichen Mann zu heiraten. Muraki sieht sich als Abschaum der Gesellschaft, als einer, der es nicht besser verdient hat, als im Dunkeln zu leben. Er gönnt sich nichts, das zeigt sich auch in seiner kargen Wohnung.
Die Charaktere könnten aus ihrer Welt ausbrechen in ein neues Leben – doch sie tun es nicht, weil sie eben sind, wie sie sind. Und zerstören sich so selbst. Diese Tragik ist das Grandiose an Shinodas Film, der schließlich abrupt und mit vielen offenen Fragen endet. Hier kommt dann auch der japanische Originaltitel des Films zum Tragen – 乾いた花, die „verwelkte Blume“.
Es gelingt Regisseur Shinoda wunderbar, in „Pale Flower“ die Komplexität von Murakis Charakter und die Dynamik der Beziehung zu Saeko auszudrücken. Das liegt natürlich zuallererst an einem guten Drehbuch und der schauspielerischen Leistung der beiden Hauptdarsteller.
Grandioses Spiel von Licht und Schatten
Doch auch Kameraführung, Schnitt und Musik tragen ihren Teil bei. Den Schwarz-Weiß-Stil des Films nutzt Shinoda für ein Spiel mit Licht und Schatten. Die taghellen, dicht belebten Straßen von Tokyo stehen im krassen Gegensatz zu den dunklen, oft surreal anmutenden nächtlichen Gassen. Charaktere verschwinden in den Schatten, wenn es thematisch passt, oder finden sich im metaphorischen Rampenlicht wieder.

Apropros Metaphern: In einer Dinnerszene der Yakuza-Bosse erscheint im Hintergrund immer wieder das Gemälde der Mona Lisa. Eine weitere mysteriöse, schöne Frau, die voller Geheimnisse steckt und seit Jahrhunderten die Welt fasziniert. Die Parallele zur Hauptgeschichte ist offensichtlich, Saeko ist Murakis „Mona Lisa“, deren Lächeln ihn schließlich in den Ruin treibt.
Es ist eine gute Nachricht für Filmfans, dass es „Pale Flower“ dank der Bemühungen von Shochiku Co. Ltd. und der Japan Foundation nun endlich auf die deutsche Leindwand schafft. Auch nach rund 60 Jahren hat Shinodas Geschichte nicht an Aktualität verloren. Die gezeigten Themen, insbesondere das Streben nach immer neuen Thrills und die zerstörerische Kraft, die Beziehungen innewohnen kann, passen auch in die moderne, digitalisierte Zeit.
„Pale Flower“ lohnt sich auch ohne Japan-Vorwissen
Veröffentlicht wird er Film hier als digitales Remaster, in japanischer Originalsprache mit deutschen Untertiteln. Natürlich unterscheidet sich „Pale Flower“ stark von den heutigen Konventionen des Films und den Sehgewohnheiten unserer Zeit. Das fordert den Zuschauern einiges ab.
Um „Pale Flower“ zu verstehen, muss man übrigens kein Japan-Fan sein oder die Gepflogenheiten der Yakuza bis ins Detail kennen. Hintergrundwissen dazu bereichert das Filmerlebnis zwar, ist für das zentrale Element des Films – die Beziehung von Muraki und Saeko – aber nicht notwendig.
Einzig in den Glücksspiel-Szenen wünscht man sich, die Regeln zu verstehen, um die Reaktionen der Charaktere auf aufgedeckte Karten richtig deuten zu können. Gut möglich auch, dass sich in den gespielten Karten und ihren Motiven – Hanafuda-Karten zeigen Pflanzen und Tiere – zusätzliche Bedeutungen verstecken, die einem europäischen Publikum verborgen bleiben.
Andererseits dürfte auch das japanischer Publikum 1964 überwiegend nicht gewusst haben, wie Yakuza-Glücksspiele funktionieren. Die irritierende Wirkung der Szenen ist dann womöglich Shinodas Absicht.
Wer sich selbst einen Eindruck von dem japanischen Noir-Meisterwerk „Pale Flower“ verschaffen will, hat dazu in den nächsten Monaten quer durch Deutschland die Gelegenheit. Nachstehend findet ihr einige der bisher bekannten Termine des Films.
Alle bisher bekannten Vorstellungstermine im Überblick
BERLIN
Neues Off
- Dienstag, 18.07., Uhrzeit tba
- Sonntag, 23.07., Uhrzeit tba
DÜSSELDORF
Bambi
- Montag, 19.06., Uhrzeit tba
ESSEN
Eulenspiegel
- Montag, 27.11., Uhrzeit tba
KÖLN
Filmhaus
- Samstag, 20.05., Uhrzeit 21:30
- Dienstag, 23.05., Uhrzeit 21:30
- Mittwoch, 24.05., Uhrzeit 21:30
Infos
- Internationaler Name: Pale Flower
- Original Name: 乾いた花 – Kawaita Hana
- Deutscher Publisher: Rapid Eye Movies
- Regisseur: Masahiro Shinoda
- Erschienen: Japan 1964, Deutschland 2023
- Länge: ca. 96 Minuten
- Freigegeben ab: 12 Jahren
- Genre: Noir
- Sprachen: Japanisch mit deutschen Untertiteln