Naturkatastrophen sind in Japan ein ständiges Thema. Vulkanische Aktivität und Erdbeben kommen auf den japanischen Inseln regelmäßig vor, auch Überflutungen und Erdrutsche treten häufig auf. Über allem schwebt die Erinnerung an das Tohoku-Erdbeben mit anschließendem Tsunami im Jahr 2011 und die Sorge vor einem Großbeben in der Region Tokyo in der Zukunft.
Kein Wunder also, dass der Umgang mit Katastrophenfällen in der japanischen Gesellschaft einen hohen Stellenwert einnimmt. Neue Gebäude werden üblicherweise erdbebensicher erbaut, Katastrophenübungen gehören zum Schulalltag dazu und verschiedene Einrichtungen bieten für alle Interessierten Simulationen von Taifunen oder Erdbeben an, so dass sich selbst Touristen auf das Schlimmste vorbereiten können.
Mit „Phase Free“-Konzept sollen Menschen in Japan katastrophensicher leben
Doch vielen Menschen fällt es schwer, das notwendige Wissen während eines tatsächlichen Notfalls abzurufen. Sie sind auf Anweisungen und Hilfe von Rettungskräften angewiesen. Je länger Menschen nicht von Notfällen betroffen sind, umso mehr sinkt zudem die Bereitschaft, sich mit dem Thema zu beschäftigen und sinnvolle Vorkehrungen zu treffen. An diesem Punkt setzt das „Phase Free“-Konzept der gleichnamigen Phase Free Association aus Tokyo an.
Deren Vorsitzender ist Tadayuki Sato. Der 50-Jährige stellte das Konzept 2014 vor, als die Erinnerungen an das Tohoku-Erdbeben noch frisch im gesellschaftlichen Gedächtnis weilten. Satos Interesse an Katastrophenschutz geht jedoch weiter zurück. Im Studium lernte er, wie durch gute Planung im Bau von Infrastruktur und Städten die Auswirkungen von Katastrophen minimiert werden können.
Später besuchte er die kleine Insel Okushiri, westlich von Hokkaido. Im Jahr 1993 wurde die Insel nach einem Seebeben von einem Tsunami überspült, trotz Schutzmaßnahmen verloren rund 200 Menschen ihr Leben. Von der Katastrophe erholte sich die Insel nie komplett. Ein ähnliches Bild zeigte sich Sato später in den Küstenregionen Tohokus, die 2011 von einem Tsunami getroffen wurden.
Er kam zu dem Schluss, dass es eines in den Alltag integrierten Katastrophenschutzes bedarf, um die Motivation und Aufmerksamkeit für präventive Maßnahmen hoch zu halten. Viele Katastrophenschutz-Konzepte arbeiten mit Phasen, die unterschiedliche Bedrohungslagen abbilden und entsprechende Handlungsanweisungen geben. Doch Sato wollte ein Konzept, das die Grenze zwischen Alltag und Notfall fließend gestaltete, das ohne Phasen auskommt – „Phase Free“ eben.
Er begann Vorträge zu halten, in denen er Teilnehmenden die Bedeutung vorausschauender Schritte vermittelte. Doch viele taten sich schwer damit, ohne direkte Notwendigkeit aktiv zu werden und ihr Leben sicherer zu gestalten. Sato suchte darum den Kontakt zu Unternehmen. Seit 2018 arbeitet die Phase Free Association mit Firmen in vielen Teilen Japans zusammen, um Produkte und Dienste nach dem „Phase Free“-Konzept zu entwickeln.
Den Produkten gemeinsam ist, dass sie darauf ausgelegt sind, im Alltag ebenso wie in Notfällen nützlich zu sein. Sato wünscht sich, dass mehr Menschen beim Kauf neuer Produkte auf diesen Aspekt achten und so besser auf Unglücke vorbereitet sind, ohne in dauerhafter Alarmbereitschaft leben zu müssen. Zu den „Phase Free“-zertifizierten Angeboten zählen etwa PKWs, die zum Schlafplatz umgerüstet werden können, Jacken mit aufblasbaren Lufttaschen, die als Kissen dienen und Pappbecher, die auch als Messbecher genutzt werden können.
Wie ein Leben nach dem „Phase Free“-Konzept praktisch aussehen kann, zeigt Chiaki Matsuyama. Die 51-jährige Architektin hat ihren Haushalt so gestaltet, dass sie für Erdbeben oder andere Katastrophen bestens gerüstet ist. Der erste Schritt dazu war es, sich von nicht benötigten Dingen zu trennen und so Platz in einem kleinen Schuppen auf ihrem Grundstück zu schaffen.
Ein öffentlicher Park als Präventionsmaßnahme
In dem lagert sie nun Reis, Wasser und andere notwendige Dinge. Dabei achtet sie darauf, nur solche Lebensmittel zu kaufen, die sie auch im Alltag konsumiert und die leicht nachzufüllen sind, etwa Instant-Nudeln. Auch einen tragbaren Gaskocher besitzt Matsuyama. Manchmal nutzt sie ihn auf ihrer Terrasse, um sich Essen zuzubereiten. Als Abwechslung zum üblichen Kochen in der Küche und um die Nutzung zu üben.
Auch einen Tank für Regenwasser hat die Architektin auf ihrem Grundstück aufgestellt. Das darin gesammelte Wasser nutzt sie, um ihre Pflanzen zu gießen. Doch in einem Notfall würde ihr der Tank als wertvoller Wasservorrat dienen. Sato sieht in Matsuyamas Lebensstil ein gutes Beispiel dafür, wie „Phase Free“-Katastrophenschutz im Alltag aussehen kann.
Doch nicht nur in privaten Haushalten findet das Konzept Anwendung. Im Bezirk Toshima in Tokyo findet sich der Ike Sunpark, eine öffentliche Grünanlage mit weiten offenen Grasflächen in einem dicht bebauten Stadtviertel, umgeben von Hochhäusern. Der Ort, der den Menschen die meiste Zeit als Ort der Erholung und sozialer Treffpunkt dient, kann im Bedarfsfall Leben retten.

Eröffnet wurde der Park 2020 und umfasst eine Fläche von rund 6600 Quadratmetern. Jeder Teil des Ike Sunparks wurde dabei mit Blick auf eine Nutzung im Katastrophenfall designt. Die offenen Rasenflächen etwa dienen während eines Notfalls als Landeplätze für Rettungs- und Versorgungs-Helikopter. Einige mobile Läden, die am Rande des Parks ihre Waren anbieten, können abgebaut werden, um Zugang zu Strom- und Wasseranschlüssen zu schaffen.
Sogar die öffentlichen Toiletten des Parks sind besonders. Sie beziehen ihr Wasser aus einer eigenen Brunnenanlage und funktionieren so auch, wenn die öffentliche Wasserversorgung gestört ist. Bänke im Park können mit wenigen Handgriffen zu Kochstationen umgebaut werden, indem die Sitzflächen entfernt werden. Zudem werden in einem unterirdischen Tank rund 10.000 Liter Trinkwasser gelagert.
Der deutlichste Hinweis auf den versteckten Nutzen des Parks im Notfall ist ein Lagerhaus auf dem Gelände. In dem befinden sich allerlei Güter für die Einrichtung von Notunterkünften, darunter Zelte, Stromgeneratoren und Ballons, die als Lichtquellen dienen. Für die zuständigen Behörden des Bezirks ist der Park ein großer Schritt im Katastrophenschutz für das dicht besiedelte Stadtgebiet. Und für die Phase Free Association ein gutes Beispiel dafür, wie Alltagsnutzen und Katastrophenschutz auch im öffentlichen Raum verbunden werden können.