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Rückzug aus der Gesellschaft

Corona und das Hikikomori-Phänomen

Hikikomori, das bedeutet in der japanischen Sprache „sich zurückziehen“. Der Begriff beschreibt ein ernstes Problem – Menschen, die sich selbst aus der Gesellschaft ausschließen, oft jahrelang nicht das Haus verlassen. Umfragen zufolge könnte die Zahl der Hikikomori in Japan durch die Corona-Pandemie deutlich gestiegen sein.

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Erst im vergangenen Jahr ergaben Auswertungen aus dem Tokyoter Stadtteil Edogawa, dass dort bis zu 1,3 Prozent der Einwohner unter die Definition der Hikikomori fielen. Die beschreibt Hikikomori als Personen, die mindestens seit einem halben Jahr ihr Haus nicht mehr verlassen haben. Schätzungen zufolge gibt es zwischen einer halben und einer Million der Zurückgezogenen in Japan – Experten vermuten eine noch höhere Dunkelziffer.

Tausende werden durch Corona zu Hikikomori

Nun veröffentlichte auch die Stadt Yokohama Ergebnisse einer Umfrage, die die Stadtverwaltung Mitte 2022 durchführen ließ. Von den 1,435 Befragten sind demzufolge rund 1,5 Prozent Hikikomori. Hochgerechnet bedeutet das: etwa 20,000 Hikikomori lebten 2022 in Yokohama – 40 Prozent mehr als bei der letzten Umfrage in 2017.

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Die tatsächliche Zahl dürfte dabei sogar noch deutlich höher liegen – schließlich wurden in der Umfrage gezielt nur Personen mittleren Alters und darüber befragt. Junge Menschen kamen nicht vor, stellten aber in der Vergangenheit meist den Großteil der Hikikomori im Land. Die zunehmende Zahl älter werdender Hikikomori und solcher, die sich erst im Alter zurückziehen, verschärft das ohnehin schwierige Problem schon seit einiger Zeit.

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Der verzeichnete Anstieg der Zahlen in Yokohama erklärt sich teils aus den Antworten auf die Frage, was die Menschen in die Abgeschiedenheit getrieben habe. Ein Drittel antwortete, der Auslöser sei für sie die Corona-Pandemie gewesen. Weitere 50 Prozent gaben „geringe Energie“ und „Jobverlust oder Ruhestand“ als Gründe an. Viele von ihnen hatten sich bereits mehr als ein Jahr aus der Gesellschaft zurückgezogen.

Hilfe ist kaum gewünscht

Um das Thema anzugehen, hat Yokohama bereits im April 2022, noch bevor die Umfrage stattfand, eine Abteilung zur Unterstützung von Hikikomori gegründet. Doch viele der Betroffenen wünschen gar keine Hilfe. In der Umfrage gaben 60 Prozent von ihnen an, dass sie kein Interesse an Beratung durch öffentliche Einrichtungen hätten.

„Ich sehe mich nicht in der Lage, meine Gefühle gegenüber einer anderen Person zu erklären“ oder „Ich mache mir Gedanken, was sie mich fragen werden,“ lauten die Bedenken gegenüber den Beratungsdiensten. Zu einem ähnlichen Resultat, wenn auch mit einem geringeren Anteil, kamen die Untersuchungen in Edogawa in Tokyo ebenfalls.

Warum das Hikikomori-Phänomen gerade in der japanischen Gesellschaft so stark ausgeprägt ist, dafür gibt es verschiedene Theorien. Die Gründe, die den einzelnen Menschen in die Isolation treiben, sind vielfältig. Zerrüttete Familien, Kindheitstraumata oder Mobbing können Auslöser sein. Ein wichtiger Faktor sind aber wohl die Erwartungen, die die japanische Gesellschaft an ihre Mitglieder stellt.

Denn in Japan gibt es durchaus eine klare Vorstellung davon, wie ein erfolgreicher Lebenslauf auszusehen hat. Schule, Studium, Heirat, Karriere, Familie – die „richtige“ Laufbahn lässt wenig Spielraum für individuelle Entwicklungen und Zeiten der Selbstverwirklichung. Wer dem vorgegebenen Weg nicht folgt, sieht sich schnell sozialem Druck ausgesetzt – oder fühlt sich ausgeschlossen.

Eine verpatzte Aufnahmeprüfung oder ein Auslandsjahr nach dem Studium – schon das kann reichen, um den Anschluss an die eigene Generation zu verlieren. Manche kämpfen sich zurück in die Gesellschaft, andere verlassen das Land. Andere stürzen in Depression und greifen zum Suizid. Und dann gibt es eben jene, die sich zurückziehen.

Alternde Hikikomori zwingen den Staat zum Handeln

Auch ein Jobverlust, gesundheitliche Probleme oder der Schritt in den Ruhestand können Gründe dafür sein, dass Menschen zu Hikikomori werden. Viele der Betroffenen sehen sich als „gescheitert“. Sich zurückzuziehen ist ihr Weg, dem Konflikt mit einer Gesellschaft auszuweichen, in der sie für sich keinen Platz finden.

Ob der Schritt zum Hikikomori nun die Folge von Depressionen, Persönlichkeitsstörungen oder Angststörungen ist, oder ob sie erst durch den Rückzug ausgelöst werden, lässt sich kaum sagen. Zu individuell sind die Geschichten hinter der selbstgewählten Isolation.

Oft sind es die Eltern der Hikikomori, die sich um sie kümmern, für Essen und Unterkunft sorgen. Lange glaubte man im Land, dass man die Wahl der Isolierten einfach hinnehmen sollte. Auch Scham sorgte dafür, dass sich Eltern lieber still um das zurückgezogene Kind kümmerten, als Hilfe bei Dritten zu suchen.

Doch nun werden viele Hikikomori älter, in immer mehr Fällen kümmern sich 80-jährige Eltern um 50-jährige Hikikomori. Werden die Eltern pflegebedürftig oder sterben, steht auch das Leben ihrer isolierten Kinder auf dem Spiel. Die Entwicklung ist einer der Gründe, warum sich Japans Verwaltungen dem Thema seit einigen Jahren verstärkt annehmen, nachdem man es lange ignoriert hatte.

Risiken und Chancen im Internet

Auch das Internet spielt eine wichtige Rolle im Hikikomori-Phänomen. Im Internet können sich die Isolierten genau aussuchen, wie sie mit wem in welchem Rahmen kommunizieren möchten. Es gibt ihnen eine Kontrolle über die sozialen Interaktionen, die sie in der Außenwelt nicht haben.

So verwundert es kaum, dass Internetsucht heute oft bei Hikikomori diagnostiziert wird. Doch es ist auch Teil möglicher Lösungsstrategien. Zum einen vernetzen sich Hikikomori untereinander, tauschen sich aus und unterstützen sich teils beim Weg aus der Isolation. Zum anderen gibt das Internet den Beratungsstellen einen Zugang zu den Betroffenen.

„Wir haben gelernt, dass es eine psychologische Hürde gibt, öffentliche Beratungsangebote zu nutzen. In Zukunft werden wir daran arbeiten, Informationen über unsere Unterstützungssysteme aktiv auszusenden,“ beschreibt ein Beamter aus Yokohama den Ansatz. Wer sich über das Internet als Hikikomori zu erkennen gibt, kann beispielsweise gezielt Informationen zugesendet bekommen.

Wenn es Japan gelingt, Zugang zu den Hikikomori zu gewinnen und zumindest einigen von ihnen aus der Isolation zu helfen, dürften andere Länder an den Ergebnissen durchaus interessiert sein. Denn längst sind auch aus anderen Staaten wie den USA, Spanien, Südkorea und Indien Fälle des langfristigen Rückzugs aus der Gesellschaft bekannt, die denen in Japan ähneln. Die Hikikomori mögen in Japan ihren Namen bekommen haben – womöglich sind sie aber ein Phänomen, mit dem sich alle modernen Gesellschaften beschäftigen müssen.

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