Mehr Kinder braucht das Land, da ist man sich in Japan einig. Die Geburtenrate fiel in 2022 auf ein historisches Tief, weniger als 800.000 Kinder wurden geboren. Mit großer Sorge blickt die japanische Gesellschaft auf ihre Zukunft. Wie es anders geht, zeigt die Kleinstadt Nagi.
Die liegt im ländlichen Teil der Präfektur Okayama im westlichen Japan. Zwischen weiten Feldern und einem Bergmassiv findet sich das Städtchen mit seinen rund 5.700 Einwohnern. Ein Museum für moderne Kunst gibt es in Nagi, ansonsten hat die Stadt Besuchern nicht viel anzubieten.
Zwanzig Jahre Investition in eine kinderfreundliche Stadt
Doch Nagi hat etwas, das dem Rest Japans fehlt: eine hohe Geburtenrate. 2,95 Kinder brachten Frauen in Nagi 2019 im Durchschnitt zur Welt, 2021 waren es immerhin noch 2,68 – doppelt so viel wie der nationale Durchschnitt von 1,3 Kindern pro Japanerin.
Während die Bevölkerung in den ländlichen Regionen Japans immer weiter schrumpft, ist sie in Nagi im letzten Jahr sogar gestiegen. Moderat zwar – von 5.725 Einwohnern im April 2022 auf 5.751 im März 2023. Doch der Abwärtstrend, den der Ort über Jahrzehnte erlebte, scheint vorerst gestoppt. Wie das gelingen konnte, darauf schaut man nicht nur in Japan ganz genau.
Mehr als 50 Besuche hochrangiger nationaler und internationaler Gäste empfing Nagi zuletzt jedes Jahr. Die USA, Südkorea, die Niederlande und Qatar gehören zu den Ländern, die bereits Delegationen nach Nagi schickten. Im Februar 2023 war Japans Premierminister Fumio Kishida persönlich vor Ort, um sich einen Eindruck von der Stadt zu verschaffen, die Japans Trend zum Kindermangel trotzt.
Für ihn dürfte der Besuch von Nagi besonders inspirierend gewesen sein. Schließlich verkündete der Premier erst vor Kurzem, mit aller Kraft gegen die sinkende Geburtenrate ankämpfen zu wollen. Ein Maßnahmenpaket seiner Regierung zur Unterstützung von Familien mit Kindern wurde ebenfalls vorgestellt. Doch im Land herrschen Zweifel, ob die Pläne erfolgreich sein werden, weil zentrale Fragen der Finanzierung nicht geklärt sind.
Schwierige Ursachensuche
Ein weiterer Grund für die Skepsis in der Bevölkerung: niemand weiß so richtig, was genau die Ursachen für den Abwärtstrend bei den Geburten sind. Auch wenn manch Politiker glaubt, die Gründe in mangelnden romantischen Fähigkeiten oder zu hohen Ansprüchen japanischer Frauen gefunden zu haben – die Realität ist deutlich komplexer.
Überholte Geschlechterrollen, finanzielle Unsicherheiten, unklare Berufs- und Zukunftschancen und veränderte Werte in den jungen Generationen sind nur einige der Aspekte, die im Zusammenspiel dafür sorgen, dass sich immer mehr Menschen gegen die klassischen Modelle von Ehe und Familie entscheiden.
Was also läuft in Nagi anders? Dazu braucht es einen Blick zwanzig Jahre zurück – als der Kampf der Kleinstadt um ihre Zukunft begann. Damals stand eine Fusion Nagis mit benachbarten Städten zur Debatte, die von den Einwohnern abgelehnt wurde. Doch um dauerhaft eigenständig zu bleiben, musste die Stadt ihre bereits seit den 80er Jahren stetig sinkende Bevölkerungszahl stabilisieren.
Dazu brauchte es zuerst einmal Geld. Die Stadtverwaltung strich Förderprogramme massiv zusammen, um die Reserven zu füllen. Über einen Spendenaufruf an die Bevölkerung kamen noch einmal rund 160 Millionen Yen (ca. 1 Mio. Euro) an zusätzlichen Mitteln zusammen.
Die Mittel investierte Nagi im Anschluss in Projekte, die die Stadt attraktiver für junge Familien mit Kindern machen würden. Kindererziehung zu unterstützen, das ist die zentrale Säule von Nagis Plan, um die Gemeinde am Leben zu halten.
Bildung, Beratung und Wohnen als Kernelemente
Das beginnt bei der Schulbildung: die Stadt stellt für alle Kinder in den Grund- und Junior-High-Schulen Bücher und Lehrmaterialien zur Verfügung. Daneben ist auch die medizinische Versorgung der Kinder für die Familien kostenlos. Und für Schüler in den Junior- und Senior-High-Schulen gibt es eine jährliche Unterstützung von 240.000 Yen (ca. 1.600 Euro) pro Schuljahr.
Fünf Jahre nach der Schicksals-Entscheidung zur Zukunft Nagis eröffnete dann das „Nagi Child Home“, eine Unterstützungseinrichtung für Eltern. Hier wird nicht nur Kinderbetreuung angeboten, auch Beratungsangebote finden im „Child Home“ Platz.
Die Angestellten der Einrichtung sind dabei ebenfalls Einwohner von Nagi. Oft sind es Mütter, deren Kinder bereits erwachsen sind und die jungen Familien mit ihren Erfahrungen und Ratschlägen zur Seite stehen. Der Service soll niedrigschwellig sein, so als würde man mit Nachbarn sprechen und nicht mit professionellen Sozialarbeitern.
Trotzdem sank die Bevölkerung Nagis über die letzten zwanzig Jahre weiter – ein Ergebnis der schon seit Jahrzehnten andauernden Überalterung. Erst im vergangenen Jahr stabilisierten sich die Zahlen. Erstmals übertraf die Zahl der Geburten und Zuzüge die Zahl der Todesfälle. Die jahrzehntelangen Bemühungen tragen Früchte.
Der Ruf Nagis als kinderfreundliche Stadt hat sich bereits herumgesprochen in Japan. Viele junge Familien sind in den letzten Jahren in den Ort gezogen. Darum ist der Bau familienfreundlicher Wohnungen, die den Ansprüchen der jungen Generation genügen, das aktuellste Projekt der Stadtverwaltung.
So werden nun Häuser gebaut, in denen auch Wäsche getrocknet werden kann. Denn da Familien mit drei Kindern nun die neue Normalität in Nagi geworden sind, reicht der Platz zum Wäschetrocknen vorm Haus oft nicht mehr aus. Die Bedarfe der Familien im Auge behalten und so attraktiv zu bleiben – darin liegt einer der Schlüssel zum Erfolg.
Auch die Alten profitieren
Und die älteren Einwohner Nagis? Auch die profitieren vom Fokus der Stadt auf die Kindererziehung, so sagt die Stadtverwaltung. Denn gegen die sinkende Geburtenrate vorzugehen und etwas für die alternde Gesellschaft zu tun, das seien zwei Seiten derselben Medaille.
Weniger junge Haushalte führten dazu, dass sich wichtige Einrichtungen wie Supermärkte, aber auch Kliniken und andere Geschäfte finanziell nicht halten könnten. Schließen sie, werden die Orte für Neuzuzügler unattraktiv, junge Menschen ziehen in die nächstgrößeren Städte. Zurück bleiben aussterbende Orte mit einer alten Bevölkerung, der es an wichtiger Infrastruktur fehlt.
Überall in Japans ländlichen Gegenden findet man solche sterbenden Orte. Das Schicksal vieler ist bereits besiegelt. Nagis erfolgreiche Abkehr vom Abwärtstrend mag eine seltene Ausnahme sein, und ganz sicher werden sich die Methoden der Kleinstadt nicht ohne weiteres auf ein ganzes Land übertragen lassen. Doch für viele kleinere Gemeinden in Japan, die ihre Zukunft durch einen Mangel an Kindern bedroht sehen, könnte der Ort zum Vorbild werden, um das Blatt doch nochmal zu wenden.