Jeden Tag den Schulranzen packen, das ist für japanische Schulkinder seit Anfang April wieder Alltag. Da begann das neue Schuljahr – und mit ihm eine wiederkehrende Debatte. Denn die Ranzen werden immer schwerer und dadurch zur Gesundheitsgefahr.
Die „Randoseru“, wie Schulranzen in Japan genannt werden, haben eine über hundertjährige Tradition. Entwickelt haben sie sich vermutlich aus den Militärrucksäcken niederländischer Soldaten. Bis heute ist ihr Grunddesign praktisch unverändert.
Ranzengewicht steigt seit Jahren
Doch auch wenn die auffälligen Ranzen hübsch anzusehen sind, für die Schulkinder werden sie zunehmend zur Belastung. Denn, so zeigt eine aktuelle Umfrage, immer mehr Schulmaterial landet in den Rucksäcken und lässt ihr Gewicht bedenklich in die Höhe schnellen.
Durchgeführt wurde die Umfrage von der Firma Footmark Corp., die Badebekleidung für Schulen produziert. Schon seit mehreren Jahren laufen die Befragungen, bei denen landesweit Familien kontaktiert werden, deren Kinder die erste bis dritte Klasse der Grundschule besuchen.
Das Ergebnis: das Gesamtgewicht der Ranzen, wenn sie mit Schulmaterialien und Büchern befüllt sind, stieg seit der letzten Umfrage 2021 von durchschnittlich 3,97 Kilogramm auf 4,28 Kilogramm. Einige Familien antworteten sogar mit Werten von über 10 Kilogramm.
Zur Einordnung: in Deutschland wird für Schulranzen empfohlen, dass sie maximal 10-20 Prozent des Gewichts des Kindes haben sollten, um den Körper nicht zu stark zu belasten. Mit vier Kilogramm kratzt der japanische Durchschnittsranzen bereits an der 20 Prozent-Marke – ein 10 Kilogramm Ranzen dürfte sogar ungefähr 50 Prozent des Gewichts eines Erstklässlers ausmachen.
Wenn die Digitalisierung das Leben schwerer macht
Da verwundert es nicht, dass ein Drittel der in Japan befragten Kinder angaben, durch schwere Schulranzen öfters Schmerzen zu haben. Auch antworteten 60 Prozent, dass sie die Schulranzen „oft“ oder „immer“ als zu schwer empfinden – im Vorjahr waren es noch 50 Prozent. Oft reichen die Ranzen sogar gar nicht mehr aus, um alle Materialien zu transportieren, die Kinder tragen dann zusätzliche Taschen mit sich.
Die Ursachen für die Entwicklung des Ranzengewichts liegen, ungewöhnlicherweise, auch in der Digitalisierung der Schulen. Warum das so ist, erklärte Professor Takeshi Shirado der Zeitung Mainichi Shinbun. Er lehrt an der Taisho-Universität und begleitete die Umfrage wissenschaftlich.
Entsprechend des neuen Lehrplans in Japan, der 2022 in Kraft trat, gehört Programmieren nun auch in Grundschulen zum Pflichtunterricht. Dafür werden die Kinder mit digitalen Geräten – etwa Tablets oder Laptops – ausgestattet. Die müssen sie aber, wie auch ihre Bücher, oft zwischen Wohnung und Schule transportieren.
Aufruf des Bildungsministeriums weitestgehend ignoriert
So landet schnell ein extra Kilogramm im Ranzen. Mit der Zeit sollen zwar auch digitale Lehrbücher zu Anwendung kommen – etwa im Englischunterricht der fünften und sechsten Klassen ab 2024. Doch für die Anfangszeit werden auch diese noch gemeinsam mit physischen Lehrbüchern verwendet. Noch steigt das Gewicht der Ranzen also durch die Digitalisierung.
Und auch die Lehrbücher sind nicht leichter geworden. Ein neuer Fokus weg vom Auswendiglernen hin zum Verstehen und Anwenden von Wissen hat dafür gesorgt, dass neue Lehrbücher umfangreicher und damit schwerer daherkommen.
Schon 2018 rief das japanische Bildungsministerium die Schulen wegen der sich abzeichnenden Entwicklung auf, flexibler zu sein. So sollten Schulkinder die Möglichkeit haben, Schulmaterial in der Schule zu lagern, wenn es nicht für Arbeiten zu Hause benötigt wird. Auch für Schulbücher gibt es diese Möglichkeit – in der Theorie.
Doch kaum eine Schule setzte den Aufruf um. Bücher, die eigentlich in der Schule gelassen werden sollten, mussten für Hausaufgaben letztlich doch wieder in den Ranzen wandern. Erst jetzt entwickeln sich erste Alternativen zum bisherigen Vorgehen.
„Leichter Lernen“ in Kobe
„Karu-sta“, eine Zusammensetzung aus dem japanischen „karui“ – „leicht“ – und dem englischen „study“, nennt der Bildungsausschuss der Stadt Kobe seine neue Initiative. Die soll das bisherige System umdrehen.
Anstatt zu fragen „was kann man in der Schule lassen“ soll nun geschaut werden „was ist das Minimum, das notwendigerweise nach Hause genommen werden muss“. Dass Schulmaterial also in den Schulen verbleibt, soll die Regel sein – das Mitnehmen im Ranzen die Ausnahme.
Ein Beispiel: an Tagen, an denen die Schulkinder Laptops mit nach Hause nehmen, sollten auch die Schulaufgaben darauf ausgelegt sein. Lehrbücher und Hefte können dann in der Schule bleiben. Auch Materialien für den Kunstunterricht sollen nicht mehr so oft den Ort wechseln müssen.

Das macht die Schulranzen leichter und senkt die Belastung für die Kinder. Doch es schafft ein neues Problem für die Schulen. Die müssen das Schulmaterial nämlich irgendwo lagern. Dafür fehlt vielen aktuell der Platz. In einer städtischen Grundschule werden nun etwa Regale in ungenutzten Gängen und Klassenzimmern aufgestellt, um dort Bücher und andere Materialien zu lagern.
Bis sich aus ersten lokalen Initiativen aber tragfähige Lösungen für ganz Japan entwickeln, dürfte es noch weit länger dauern, als nur ein Schuljahr. Auch im nächsten April wird also eine neue Generation von Erstklässlern noch unter dem Gewicht überfüllter Schulranzen zu ächzen haben. Bis die Digitalisierung irgendwann endlich tut, was sie verspricht: ihr Leben leichter machen – und ihre Ranzen.